Vieraugengespräch Zum Thema COVID-19 als Stresstest

COVID-19 als Stresstest

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Die deutschen Anti-Corona-Maßnahmen scheinen zu greifen: Die Infektionsraten der Bundesländer nehmen stetig ab. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet, dass eine infizierte Person im Schnitt weniger als eine weitere anstecke. Dabei haben wir hierzulande auf vergleichsweise milde Maßnahmen gesetzt. Freilich: Die aktuelle Reproduktionszahl von 0,7 ist nur ein Zwischenstand, ein sehr fragiles Unterfangen. Eine Vielzahl von Strategien wetteifert gerade um den größten Erfolg mit den geringsten gesundheitlichen, volkswirtschaftlichen und sozialen Schäden. Grundsätzlich und unabhängig von den konkreten Strategien lässt sich für fast jeden Fleck dieses Planeten sagen: Der Erfolgsdruck ist hoch. Vielen Menschen drohen Tod oder bleibende gesundheitliche Schäden, die Wirtschaft steht global und lokal vor dem Abgrund. Das Ausmaß der Kollateralschäden massiver Lockdown-Politik wird wahrscheinlich erst in den kommenden Monaten und Jahren sichtbar. Dazu zählen Suizide, (familiäre) Gewalttaten, Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und die Verschärfung sozialer Unterschiede. Wir können konstatieren: Die COVID-19-Pandemie ist eine globale Katastrophe.

Wenn es darum geht, das Verhältnis von Kosten und Nutzen bestimmter Corona-Maßnahmen auszutesten, kann Deutschland auf einen relativ großen Spielraum zurückgreifen und dabei einen kühlen Kopf bewahren. Die Bundesrepublik hält grundsätzlich eine über den alltäglichen Bedarf hinausgehende Anzahl von Intensivbetten bereit und wurde hierfür in der Vergangenheit von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit dem Verweis auf mangelnde Effizienz kritisiert. Einer solchen Kritik dürfte mittlerweile der Treibstoff entzogen sein.

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Auch auf die Tschernobyl-Katastrophe war man nicht vorbereitet

Katastrophen sind nicht unmöglich

Grundsätzlich wird momentan viel davon geredet, dass die Welt nach der Pandemie eine andere sein werde. Von besonderer Bedeutung sollte hierbei die Schärfung des kollektiven Bewusstseins für wissenschaftlich fundierte Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf Katastrophen sein. Die Coronakrise ist schlimm, und wir werden noch lange an ihr zu knabbern haben. Aber diese Krise ist nicht die einzig denkbare, und sie ist vergleichsweise harmlos. Wir müssen uns unter anderem folgende Fragen stellen: Sind wir vorbereitet auf einen sogenannten atomaren Super-GAU? Tun wir alles, um Resistenzen und damit den Verlust der Wirkung beim Einsatz von Antibiotika zu verhindern? Tun wir alles, um Wasserknappheit in den kommenden Jahrzehnten zu verhindern? Tun wir alles, um zukünftige und noch schlimmere Pandemien zu verhindern? Und falls diese Szenarien eintreten: Wie werden wir mit ihnen umgehen?

Wir begegnen der Coronakrise mit Werkzeugen des Mittelalters

Uns sollte bewusstwerden, dass unser bisheriger Alltag keine Selbstverständlichkeit ist. Es ist nicht unmöglich, dass sich unser Leben, wie wir es eigentlich zu schätzen wissen sollten, schlagartig verändern kann. Es mag Szenarien höherer Gewalt geben, auf die wir keinen Einfluss haben. Aber in jedem Fall können wir uns bemühen, vorbereitet zu sein. Die Corona-Krise ist ein Stresstest, der uns vor Augen führt, dass wir kaum vorbereitet sind. Auch wenn viele Staaten die Infektionsraten mittlerweile senken konnten, mussten und müssen sie zu teils drastischen und folgenreichen Mitteln greifen. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar beschrieb es in der TV-Sendung Maybritt Illner folgendermaßen: „Quarantäne, Abstand, Masken – das sind Maßnahmen des Mittelalters. Wir leben 2020. Wir könnten intelligent und schnell sein.“ Yogeshwar verweist hier auf ungenutzte digitale Möglichkeiten.

Vielleicht lernen wir, Katastrophen, die wir verhindern können, zu verhindern und mit Katastrophen, die wir nicht verhindern können, besser umzugehen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Tötung des zügellosen Effizienzstrebens im Gesundheitswesen. Wir wissen nun, was es bedeutet, über eine über den alltäglichen Bedarf hinausgehende (intensivmedizinische) Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu verfügen. Es bedeutet, für den Katastrophenfall etwas besser gewappnet zu sein. Aber auch Forschung, allgemeine Infrastruktur und Digitalisierung sind wichtig, wenn wir verhindern wollen, mit den Werkzeugen des Mittelalters auf Katastrophen reagieren zu müssen. Das zumindest lehrt uns COVID-19. | von Can Keke

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