Die EU-Kommission konsultiert Bevölkerung, Unternehmen und Staaten der Europäischen Union zur Frage, ob die Zeitumstellung abgeschafft oder beibehalten werden soll. Wer für eine Abschaffung stimmt, wird zudem gefragt, ob die dauerhafte Sommer- oder Winterzeit befürwortet wird. Dieses Plädoyer behandelt nicht die Frage der Zeitumstellung, sondern konzentriert sich auf die Sommerzeit als auf die Sommermonate beschränkte oder ganzjährige Zeit.
Ein Kommentar von Can Keke
Ich bin kein Drinni. Ich bin ein Draußi. Ich mag Licht, auch und insbesondere nach der Arbeit. Mir ist es nicht egal, ob die Sonne abends im September schon um 18 oder erst um 19 Uhr untergeht. Ich sehne mich nicht zurück nach einer Kultur, in der früh am Abend die Bürgersteige hochgeklappt und die Rollläden heruntergelassen werden. Dabei sind alte Werte momentan wieder „in“, geben vielen ein Gefühl von Sicherheit und Natürlichkeit. Das gilt ja auch für das Brot beim Bäcker, der mit „‘Wikingerbrot‘, ‚Heidebrot‘, ‚Spreekruste‘“ und „Fake-vergilbte[n] Retroetiketten in Frakturschrift […] die verlockende Kausalkette Tradition = Erdig = Bio = Gutgesund“ [1] auslöst. Auch das „Make America Great Again“ eines für seine außerordentliche Ratio bekannten Präsidenten ist das Ergebnis einer Anti-Globalisierungs- und Angstmentalität. Zurück zum Alten, denn nur das ist gut und richtig.
Die Winterzeit wird gerne als natürliche, traditionelle Zeit und damit auch als gesunde, ideale, richtige angepriesen und befürwortet. Dieses Argument hat allerdings mit mindestens zwei Hauptproblemen zu kämpfen:
Problem (1): Die Kausalschlüsse „natürliche Zeit = gesunde Zeit“ und „natürliche Zeit = richtige Zeit“ funktionieren nicht ohne weitere Prämissen. Warum sollte eine natürliche Zeit denn automatisch gesund oder richtig für den Menschen sein? Hier droht man, einem sogenannten naturalistischen Fehlschluss auf den Leim zu gehen. „Als Naturalistischer Fehlschluss (engl. naturalistic fallacy) wird der Versuch bezeichnet, das Gute als eine bestimmte deskriptive, natürliche oder metaphysische Eigenschaft oder Relation zu definieren.“ [2] Es genügt nicht, die Natürlichkeit einer bestimmten Sache zu beschreiben, um sie als das Gute und Richtige definieren zu können. Dies gilt auch und vielleicht noch mehr für Argumente, die auf Gesundheit rekurrieren. Um den Schritt von der Prämisse „Natürlichkeit“ zur Konklusion „das Gute, Richtige und Gesunde“ gehen zu können, benötigt man weitere Prämissen, also Fakten, die den ebengenannten Schritt zu einem logisch gültigen Argument machen. Solange jedoch keine ausreichenden Fakten genannt werden, bleibt das Argument ungültig respektive unvollständig.
Problem (2): Was ist überhaupt “natürliche” Zeit? Der Mensch erzeugt doch die Schablonen für das Ablesen einer Sonnenuhr, das Zeitsystem, den 24-Stunden-Tag in seiner Kultur selbst. Er geht normalerweise nicht dann schlafen, wenn es gemäß irgendeiner Natürlichkeitsregel sinnvoll wäre. Stattdessen geben persönliches Müdigkeitsempfinden und/oder Job/Familie/Freizeitgestaltung den Zeitplan für das Zubettgehen und Aufstehen vor. Wir richten uns hier weniger nach dem Sonnenstand. Sonst müssten wir im Winter deutlich länger, im Sommer deutlich kürzer schlafen. Aber auch wenn wir annehmen, dass die Winterzeit die natürliche Zeit ist, muss die Frage gerechtfertigt sein, ob wir dann nicht prüfen müssen, wo als Spezies unsere Wurzeln liegen. Denn in Nordeuropa, wo im Sommer die Tage lang und im Winter die Tage kurz sind, ist der moderne Mensch nicht entstanden, sondern in Afrika, in Nähe zum Äquator, wo die Sonne zu ganz anderen Zeiten scheint, wo es die große Differenz zwischen langen Sommer- und kurzen Wintertagen nicht gibt. Wenn es also eine natürliche Zeit gibt, und diese aufgrund ihrer Natürlichkeit für den Menschen gesund sein soll, warum beziehen wir uns dann nicht auf jene Zeit, die in der Wiege der Menschheit gilt, der Ort, an dem der moderne Mensch entstanden ist?
Ich betrachte den Menschen u. a. als Gewohnheitstier. Nur deswegen konnte er sich auf fast alle Teile der Erde mit unterschiedlichen Klimazonen, Ressourcen und Sonnenzeiten ausbreiten, sich reproduzieren und Kulturen aufbauen, die als solche der Gegensatz zu Natürlichkeit sind. Hier liegt für mich das entscheidende Argument: Wir leben in Kulturen, die künstlich organisiert sind. Warum muss die Uhrzeit unbedingt natürlich sein (wenn sie überhaupt natürlich sein kann; siehe oben)? Warum können wir uns nicht für eine Zeit entscheiden, die unserem Leben, unseren Interessen und Bedürfnissen am ehesten entspricht, solange wir dabei keine relevanten und gültigen Argumente übergehen?
Wir müssen uns fragen, wie wir leben und leben wollen, welche persönlichen Präferenzen wir haben. Ich habe schon in der Überschrift deutlich gemacht, dass ich ein Befürworter der Sommerzeit bin. Ich liebe es, die Möglichkeit zu haben, nach der Arbeit in den Garten zu gehen, zu joggen, zu spazieren oder einfach das Tageslicht aufzunehmen, also Dinge zu tun, die ich während der Arbeitszeit nicht tun kann und nur bei Licht möglich sind oder im Hellen einfach mehr Freude bereiten. Jeder kann hierzu seine eigene Perspektive haben. Aber wenn wir wollen, dann können wir sowohl Winter- als auch Sommerzeit zur ganzjährigen Normalzeit machen. Wir sollten uns bei der Entscheidung nur nicht von ungültigen Natürlichkeitsargumenten behindern lassen.
Link zur Konsultation der EU-Kommission
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[1] Hannemann, Uli: Sagen Sie jetzt bloß nichts Falsches (12.08.2018), auf taz.de (abgerufen am 13.08.2018)
[2] Wikipedia-Artikel zum Naturalistischen Fehlschluss (abgerufen am 13.08.2018)