Sollten wir die weltweite Geltung von Menschenrechten sicherstellen?
Universelle Moral
In vergangenen Jahrhunderten war es einfacher. Man wusste, welche Handlung moralisch geboten oder verboten war. Es gab noch so etwas wie Metaphysik, gültige Antworten auf Fragen, die nicht empirisch zu begründen waren. Gott, ob nun im Mantel jüdischer, christlicher oder islamischer Tradition, ist ein Beispiel für eine Instanz, die eine solche Handlungsorientierung bieten konnte. Die Gesellschaften waren – zumindest für sich genommen – einheitlicher, weniger von Individualismus geprägt. Man glaubte damals fest an die Existenz einer universellen und für jeden gültigen Moral. Mit dem Tod Gottes, den Friedrich Nietzsche einst verkündete, begann auch das metaphysische Gefüge der Moral zu zerbrechen; zu langsam für Nietzsches Geschmack und bis heute noch immer nicht vollständig.
Unabhängig von diversen Bewegungen, die zu einem erneuten Erstarken religiöser Denkstrukturen führen, haben sich (nicht nur) moderne Philosophen mit der Frage beschäftigt, ob es eine empirisch begründbare, nachmetaphysische universelle Moral geben könne. Die Ergebnisse sind unterm Strich ernüchternd. Immer wieder wird deutlich, dass moralische Vorstellungen zwar das Ergebnis kultureller und genetischer Prägung sind, dennoch bleiben sie bloß kontingente Vorstellungen von Individuen, die nie vollständig einheitlich sind. Wenn ein Individuum im Vergleich zu einem anderen Individuum eine andere moralische Ansicht vertritt, sind gute Argumente gefragt. Gute Argumente sind in komplexen Gesellschaften aber immer diskursfähig, also kritisierbar, und repräsentieren nicht die absolute Wahrheit. Wir kennen das Problem in Bezug auf Fragen, die Homosexualität oder Inzest betreffen. Moralische Vorstellungen sind nicht für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelt, sondern zeit- und kulturrelativ.
Philosophische Bemühungen um eine universelle Moral
Der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster (*1937) formuliert es folgendermaßen: „Es gibt keine [universellen] Moralnormen, die dadurch begründet sind, dass sie den Menschen vorgegeben und ihrer Erkenntnis zugänglich sind.“ [1] Dies gelte sowohl für religiöse Begründungsmodelle als auch für moralische Prinzipien. [2] Der Moralphilosoph Peter Stemmer (*1954) hat mit seinem Moralischen Kontraktualismus einen Versuch unternommen, einen Minimalgehalt der Moral zu konstituieren, also einen kleines Paket an moralischen Grundnormen. [3] Die besondere Eigenschaft dieses Minimalgehalts soll seine nachmetaphysische Universalität sein. Diese Universalität wird dabei durch den Rückbezug auf die faktischen Interessen von Menschen gewährleistet.
Ein Beispiel für eine im Minimalgehalt der Moral enthaltene Moralnorm ist das Tötungsverbot: Menschen haben in der Regel ein größeres Interesse daran, selbst nicht getötet zu werden als einen anderen Menschen zu töten. Eine Gesellschaft, in welcher jedes Individuum jederzeit getötet werden könnte, ermöglicht keine Planungssicherheit. Menschen müssten ihre Energie darauf verwenden, sich zu schützen und könnten sich nicht entfalten. Ein moralisches Tötungsverbot würde sich also rational begründen lassen, indem man auf die primären Interessen von Menschen Bezug nimmt. Eine universelle Moralnorm ließe sich also formulieren, wenn sich zeigen ließe, dass sie dem Interesse eines jeden Individuums entspreche. Schon beim Tötungsverbot lässt sich allerdings anzweifeln, dass es wirklich universellen Charakter hat, also im Interesse eines jeden liegt. Es gibt Menschen, die lieber die Freiheit des Tötens behalten und die Gefahr, selbst getötet zu werden, eingehen. Denn wer mehr Risiken eingeht, hat gleichzeitig auch verheißungsvollere Chancen. Bei anderen, weitreichenderen oder voraussetzungsreicheren Normen ist eine Universalität noch viel unwahrscheinlicher. Es wird immer Menschen geben, die sich bestimmten Grundnormen nicht unterwerfen wollen, auch wenn es auf Kosten der eigenen, basalen Sicherheit geht.
Menschenrechte
Recht und Moral stehen in einem ganz besonderen Verhältnis zueinander. Im Idealfall basiert eine Rechtsnorm auf einer Moralnorm. Nicht jede moralische Norm bedarf jedoch der rechtsstaatlichen Kontrolle. Wir sind also auch dann bestimmten Moralnormen unterworfen, wenn ein Zuwiderhandeln nicht staatlich, sondern z. B. sozial sanktioniert wird oder sich unser Gewissen meldet. Ein Beispiel für ein Paket von Rechtsnormen, das seine Geltung aus entsprechenden Moralnormen ableiten soll, sind Menschenrechte. Menschenrechte sind nicht nur etwas, das wir den deutschen oder europäischen Bürgern zusprechen, sondern allen Menschen weltweit und darüber hinaus. Jede Entität mit der Eigenschaft, ein Mensch zu sein, ist Träger von Menschenrechten. Menschenrechte rekurrieren also auf eine universelle Moral. Die weiter oben beschriebenen Probleme, die bei der Identifikation einer universellen Moral auftreten, betreffen also auch das Thema der universellen Menschenrechte.
Menschenrechte basieren im besten Fall auf der Vorstellung von bestimmten faktischen Interessen aller Menschen, im schlechtesten Fall auf einer nicht näher beschriebenen Menschenwürde, die den Rechtfertigungsbedarf als metaphysisches Überbleibsel nur verlagert. Aber auch wenn die Interessen den Menschrechten zur Geltung verhelfen, ist es höchstfraglich, ob es ethisch vertretbar ist, dass westliche Nationen in die Lebenspraxen von z. B. Naturvölkern eingreifen, um die westliche Vorstellung von Menschenrechten umzusetzen. Haben Völker mit (prima facie) anderen Interessen kein Recht auf Autonomie, sondern nur ein Recht auf Menschenrechte nach westlichem Vorbild? Kann es mehrere Wege geben, ein gutes Leben zu führen? Muss immer das individuelle Glück der Maßstab sein?
Entscheidend sind die wirklichen und nicht immer bewussten Interessen der Menschen, gute Argumente und ein rationaler Diskurs. Erst wenn Gesellschaften gute Argumente verstehen und annehmen, können damit implizierte Menschenrechte umgesetzt werden. Auch die westliche Wertegemeinschaft muss ihre eigene Lebenspraxis stets kritisch hinterfragen und offen sein für bessere Argumente. Auch wenn wir Mitteleuropäer uns selbst eine besondere Fähigkeit zur kritischen Reflexion zuschreiben, übersehen wir zuweilen unsere eigene Beschränktheit. Auch unser Denken ist nicht unabhängig, sondern das Ergebnis von genetischer gattungsspezifischer Veranlagung, kultureller Prägung und unserem persönlichen Blinkwinkel. Vorsicht geht vor Aktionismus. Denn nur weil jemand glaubt, das Richtige zu tun, ist es noch lange nicht das Richtige. Das gilt auch für denjenigen, der in das westliche Leben eingreifen möchte, um es so zu gestalten, wie es seiner vermeintlich universellen Moral entspricht. Aus westlicher Perspektive sind Menschenrechte als Resultat jahrhundertelanger Kämpfe und Dispute ein hohes Gut. Sie sind historisch gewachsen, geben dem Individuum einen Wert und sollen Leid vermindern. Anderen Kulturen können wir solche Menschenrechte nur empfehlen, aber niemals aufzwingen. |Can Keke
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[1] Hoerster, Norbert (2008): Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Reclam, Stuttgart, S. 55.
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. Stemmer, Peter (2002): Moralischer Kontraktualismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, H1.