Vieraugengespräch Zum Thema Zur Kritik am Kapitalismus

Zur Kritik am Kapitalismus

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Kritik am Kapitalismus
Für einen großen Teil primär intellektuell denkender Menschen ist es gang und gäbe geworden, die kapitalistische Idee zu kritisieren (um nicht zu sagen: zu verteufeln). Dies geschieht aus nachvollziehbaren Gründen: Die Einkommensunterschiede armer und reicher Bevölkerungsschichten nehmen zu, die Chancengleichheiten von Individuen nehmen ab. War die Schere ursprünglich nur ein Werkzeug zum Zerschneiden von mehr oder weniger dünnen Gegenständen, dient sie schon lange als Grundlage für die Bildung einer viel genutzten Metapher. Die Schere soll mit ihren beiden Hauptachsen die zunehmenden Unterschiede zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten beschreiben. Der Idealzustand wäre eine weitestgehend geschlossene Schere und damit eine einheitliche, relativ ausgeglichene Bevölkerung mit geringen Einkommensunterschieden.

Die Metapher geht aber noch weiter: Die Achsen einer Schere haben einen gemeinsamen (mathematischen) Schnittpunkt, der sie verbindet, der sie – auch wenn der Glaube daran manchmal schwerfällt – zu einer zusammenhängenden Gesellschaft macht. An einer realen Schere befinden sich zwei Ösen, durch die die Finger des Nutzers hindurch können, um die Achsen der Schere zu steuern. Doch wer steuert eigentlich die metaphorische Schere, die das moderne Sinnbild des Kapitalismus darstellt? In westlichen Gesellschaften sollten dies die gewählten Volksvertreter sein, kurz: die Politik.

Konflikt zwischen Kapitalismus und Humanismus?
Menschen, die den Kapitalismus verteufeln, sind manchmal in ihrer Verteufelung radikal. Dies betrifft allerdings (fast) nur jene Menschen, die sich auf den Weg aus der Zivilisation ins Exil begeben. Dies dürfte auf einen Teil sogenannter Aussteiger zutreffen, also Menschen, die sich von allen kapitalistischen und gesellschaftlichen Bindungen lösen. Die meisten der übrigen Kapitalismuskritiker bleiben Teil des Systems, auch wenn sie dies (intellektuell) nicht wollen. Dies lässt sich mit den Worten des Satirikers Nico Semsrott etwas treffender beschreiben:

„Es gibt zwei konkurrierende Wertesysteme [auf dem europäischen Kontinent]. Zum einen den Kapitalismus und zum anderen den Humanismus. Und im Schnitt sind wir alle humanistische Kapitalisten. Was heißt humanistischer Kapitalismus? Es bedeutet, wir beuten andere aus, fühlen uns aber schlecht dabei.“ [1]

Intellektuelle Kapitalismuskritik führt häufig also nicht zur grundlegenden Kapitalismusabstinenz, sondern zu Unzufriedenheit bei gleichzeitiger Abhängigkeit vom System und damit zur Ausbeutung anderer Entitäten (Mensch, Tier, Umwelt). Abhängig vom System sind die Kritiker deswegen, weil sie Geld verdienen oder erhalten, das ihnen Vorteile verschafft, auf die sie nicht verzichten möchten. Weil sie sich Gegenstände kaufen können, die sie sich wünschen oder benötigen. Oder weil sie auf soziales Engagement angewiesen sind, welches ohne das System in dieser Form nicht existieren würde. Auch wenn man zu denjenigen gehört, die unter den kapitalistischen Strukturen leiden, beutet man selbst wiederum andere Entitäten aus. Ein konkretes Beispiel: Auch Arbeitslose in Deutschland profitieren einerseits vom sozialen System der Gesellschaft, das teilweise von Geringverdienern finanziert wird und andererseits von günstigen Produkten aus dem fernen Osten, die zumeist unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden.

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Zügeln des Kapitalismus
Wir sollten nicht verkennen (und tun dies auch selten), dass uns der Kapitalismus neben seinen negativen Begleiterscheinungen eine Menge Wohlstand beschert; dass sich trotz dieses Systems und eines massiven Bevölkerungswachstums die absolute Zahl der Hungernden weltweit verringert hat. [2] Gleichzeitig ist der Kapitalismus kein genuin soziales System; er muss politisch gezügelt werden, er muss mit dem Humanismus in Einklang gebracht werden, er muss von seiner Schlechtigkeit befreit werden. Er ist der Wolf, der zum Hund domestiziert und der Löwe, der zum Kätzchen gezähmt werden muss; auch dann, wenn der Drang des Hundes und des Kätzchens zurück zu alten Strukturen immer vorhanden sein wird. Dann ist es auch kein Widerspruch, am kapitalistischen System teilzunehmen und gleichzeitig ein soziales, humanistisches Miteinander zu predigen. Auf Kosten anderer (im Zweifel auf Kosten der Umwelt und damit der Tierwelt) werden wir jedoch zu einem gewissen Grad immer leben müssen: Leben verschlingt Leben, so wie auch das Kätzchen die Maus verschlingt.

Volksvertreter und die Interessen des Volkes
Leider sind es in Europa und anderen Teilen der Welt im Schnitt nicht die gewählten Volksvertreter, die das Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich steuern. Die Volksvertreter sind meist Marionetten von Lobbyisten, von Reichen, von Einflussreichen, von einflussreichen Lobbyisten. Das politische, demokratische System wird ausgehöhlt und Entscheidungen werden häufig nur dann im Sinne der Gesamtbevölkerung getroffen, wenn diese Entscheidungen als Wahlgeschenke die Wiederwahl der Volksvertreter wahrscheinlich machen, oder wenn einzelne Volksvertreter doch noch nach humanistischen Idealen handeln.

Statt den Kapitalismus per se abzulehnen oder schlechte Gefühle zu entwickeln, weil man Teil eines nationalen oder globalen antisozialen Konstrukts ist, wäre es sinnvoller, ein politisches System voranzubringen, das den Kapitalismus und den wirtschaftlichen Lobbyismus im Sinne der Gesamtbevölkerung und des Humanismus zu zügeln weiß. Geschieht dies nicht, ist ein Bruch der Schere, und damit eine Teilung der Gesellschaft, die dann gar nicht mehr politisch steuerbar sein wird, kaum zu vermeiden. |von Can Keke

Quellen:
[1] Semsrott, Nico: https://www.youtube.com/watch?v=pO_aW9ed5PI (01:50-02:09)
[2] Wikipedia (Diagramm zum Welthunger): https://de.wikipedia.org/wiki/Welthunger#/media/Datei:Anzahl_der_Hungernden_weltweit_ab_2000.svg

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