Fragt man Deutsche auf der Straße nach drei deutschen Tugenden, dann wird man von vielen keine oder nur lückenhafte Antworten erhalten. Die Zahl der Sprachlosen steigt üblicherweise, je rechter die Gesinnung ist. Es ist ironisch, dass ausgerechnet diese Menschen die deutschen Normen schützen wollen. Gibt es überhaupt kollektive Werte, die man schützen kann?
Der aktuelle Zeitgeist ist von der Individualisierung der Bürgerinnen und Bürger geprägt. Jeder möchte das größtmögliche Maß an Freiheit genießen. Dabei wird oftmals wenig Rücksicht auf die Mitmenschen genommen. Denn die Verantwortung für das eigene Handeln möchten die Wenigsten tragen, wenn es sich dabei um unangenehme Konsequenzen handelt. Beispiele dafür finden sich in großer Zahl. Warum findet man beispielsweise zwei Wochen nach Silvester noch Feuerwerksreste auf den Straßen? Weil sich die Menschen die Freiheit nehmen, an Silvester zu knallen und Raketen abzuschießen, aber nicht bereit sind, ihren eigenen Müll am nächsten Morgen wieder aufzusammeln. Zweites Beispiel: Warum sind deutsche Gerichte bundesweit mit Nachbarschaftsstreitigkeiten überlastet und finden kaum die Zeit für die wirklich wichtigen Fälle? Weil extrem viele Deutsche meinen, sich so benehmen zu können, wie sie es wollen, ohne dabei Rücksicht auf ihre Mitmenschen zu nehmen.
Dass den meisten Menschen angesichts eines solchen Alltags verschiedene Normen wie ‚Respekt‘, ‚Höflichkeit‘, ‚Rücksichtnahme‘ oder ‚Hilfsbereitschaft‘ nicht einfallen, wenn sie gezielt danach gefragt werden, ist nicht verwunderlich. Schließlich werden solche Normen oftmals nicht mehr gelebt bzw. nur für sich selbst eingefordert. Der Grund liegt auf der Hand: all diese erstrebenswerten Tugenden haben eine Kehrseite. Hält man sich an die Normen und verhält sich tugendhaft, schränkt man seine eigene Freiheit ein. Wer z. B. Rücksicht auf seine Mitmenschen nimmt, wird in seiner individuellen Freiheit ggf. massiv beeinträchtigt. Er kann dann nicht nachts laut Musik hören, seinen Müll achtlos wegwerfen, im Sommer jeden Tag unter dem Nachbarbalkon grillen, seine Wäsche tagelang im Gemeinschaftskeller hängen lassen, in der Bahn im Weg stehen bleiben, etc. Wer anderen Menschen gegenüber hilfsbereit ist, investiert Geld, Zeit und Anstrengung in die Arbeit für die Hilfebedürftigen, anstatt das Geld, die Zeit und die Anstrengung für sich selbst und eigene Ziele zu nutzen.
Deutsche Normen sind deshalb aus der Mode gekommen, weil sie dem egoistischen Streben nach Selbstverwirklichung und individuellen Freiheiten entgegenstehen. Wenn Deutschland und Europa nachhaltig stabilisiert werden sollen, dann muss deshalb ein Umdenken bei den Politikern und in der Bevölkerung stattfinden. Die Freiheit aller Menschen muss begrenzt sein, damit sie friedvoll miteinander leben können. Normen und tugendhaftes Verhalten können ihre stabilisierenden und Frieden stiftenden Konsequenzen nur entfalten, wenn sie aktiv gelebt werden, was immer einen Freiheitsverlust für die Menschen bedeutet. Es liegt an der Bevölkerung, eine Wahl zwischen der individuellen Freiheit oder dem friedvollen Miteinander zu treffen. Dass ersteres dem eigenen Glück auf Dauer nicht zuträglich ist, weil es zu Unruhen, Konflikten, Angst und Hass führt, zeigt sich ganz deutlich an der aktuellen Stimmung im Land. Die Migranten – auch die Kriminellen unter ihnen – tragen dazu nur überraschend wenig bei. |von Stefan Seefeldt
Das Vieraugengespräch – Folge 14: Brauchen wir gemeinsame Normen? Am 14.02.16 ab 12 Uhr als Podcast hier, auf iTunes und um 19:04 Uhr auf Radio 91.2.