Vieraugengespräch Zum Thema Der Einzelne und die geteilte Lebenswelt

Der Einzelne und die geteilte Lebenswelt

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Der Euro ist ein Teuro, die Flüchtlinge sind an allem schuld, die da oben machen sowieso, was sie wollen, und niemand kümmert sich. Das ostdeutsche Gefühl [1] vereint fehlenden Zusammenhalt, politische Orientierungslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Fehlende finanzielle Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe und geringe politische Gestaltungsmöglichkeiten bilden den Nährboden für radikale Positionen. Begonnen bei einer zunächst sachlich geführten Debatte über das Für und Wider der dann schon erfolgten Einführung des Euro über simplifizierende Positionen von Asylsuchenden, baute die selbsternannte „Alternative für Deutschland“ das Feindbild des Fremden und seinen Unterstützern auf und aus. Mit zunehmender Zuspitzung der Positionen in der Partei werden den Unzufriedenen in der Gesellschaft einfache Begründungen und Lösungen präsentiert. Lösungen, die in ihrer Konsequenz sich auch gegen jene richten, die von ihnen zu profitieren glauben.

Das ostdeutsche Gefühl in der Thüringen-Edition

Wes Geistes Kind die sind,  zeigte sich bei der Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten. Die AfD plante, wartete und räumte ab. Nicht die Ministerpräsidentschaft selbst, aber die des Vorgängers. Eines Ministerpräsidenten, der, von gar nicht so gespaltenen 71% der Wähler für einen guten Kandidaten gehalten wurde[2]. Durch eine„‘konstruktiv-deskruktive‘ Strategie“ wie es FDP-Parteichef Christian Lindner auf Twitter formuliert[3], handelte die AfD durch absichtsvolles Nicht-Handeln und untergräbt so das demokratische Handlungsverständnis der anderen Parteien.

Im Osten wie im Westen ist ein signifikanter Wunsch nach Führungsperson feststellbar[4]. In Ostdeutschland könnte ein Blick in die Geschichte dafür ein Erklärungsansatz sein.  Wer für Jahre und Jahrzehnte gewohnt war, dass das eigene Leben fremdbestimmt abläuft, kann mitunter auch Jahre später mit der gewonnenen Freiheit und vor allem der damit verbundenen Verantwortung nicht umgehen. Kein Wunder, wenn niemand da war, um zu zeigen, wie das geht. Wenn sich in dieser Ausgangslage Menschen als Kümmerer positionieren,  werden sie bereitwillig akzeptiert und gewählt.

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Keine Führung ist auch keine Lösung

Für die AfD gilt: Nicht die konstruktive Herbeiführung von Kompromissen ist das Ziel dieser Partei, sondern die Zerstörung sichergeglaubter Systeme. Erosionserscheinungen  zeigen sich nun auch bei Parteien, die auf dauerhaft gleichbleibende Verhältnisse setzen: In der Rücktrittankündigung von Annegret Kramp-Karrenbauer zeigt sich, dass auch zu wenig Entschlossenheit und Führungsstärke zur Zersetzung von Elementen des demokratischen Systems führen können. Die demokratischen Parteien müssen nun zeigen, wofür sie stehen – inhaltlich und systempolitisch. Ein “Weiter so“ ist darf und kann keine Option mehr sein. Die Parteien müssen wieder miteinander ins Gespräch kommen. Einerseits intern, um eine Selbstverortung und ggf. eine Kurskorrektur vorzunehmen. Andererseits extern: Der absehbare „Zwang zu Minderheitsregierungen“ lässt die Weiterführung eingeübter Verhaltensweisen nicht mehr zu, sofern rechtsextremistischen Bestrebungen kein weiterer Vorschub geleistet werden soll.

Zusammenschlüsse über Parteigrenzen hinweg werden auch jenseits von Koalitionen zu Notwendigkeiten, wenn das Gesellschaftskonstrukt in der jetzigen Form bestehen bleiben soll. Nur durch die Suche nach Gemeinsamkeiten kann Gesellschaft für alle gelingen. Und nur gemeinsames Handeln wird der eigenen Position die notwendige Stärke zuteil. Das gilt auch im Privaten und für den Einzelnen. Man muss sich nur kümmern. | von Florian Hilf


[1] Klein, Holger: WR1009 Das ostdeutsche Gefühl. Holger Klein im Gespräch mit Thomas Brandt. WRINT: Wer redet ist nicht tot.  https://wrint.de/2019/10/31/wr1009-das-ostdeutsche-gefuehl/ [13.02.2020]

[2] Infratest dimap: Ist Bodo Ramelow ein guter Ministerpräsident oder ist er das nicht?  Umfrage im Januar 2020 im Auftrag des MDR. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1092943/umfrage/bewertung-vom-thueringischen-ministerpraesident-bodo-ramelow/

[3] Lindner, Christian: https://twitter.com/c_lindner/status/1225793085394780161

[4] Deutschlandfunk Kultur:Die große Sehnsucht nach dem starken Mann. Wolfgang Merkel im Gespräch mit Ute Welty. Beitrag vom 05.03.2019.  https://www.deutschlandfunkkultur.de/studie-der-otto-brenner-stiftung-die-grosse-sehnsucht-nach.1008.de.html?dram:article_id=442701 [15.02.2020]

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