Europa ist für mich als Kind immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Als ich Geschichtsunterricht bekam, lernte ich jedoch, dass die EU eine Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte darstellt. Noch nie zuvor haben so viele Menschen über einen so langen Zeitraum friedlich zusammengelebt und kooperiert. Damit ist die EU eine schützenswerte Errungenschaft. Sie macht uns zwar viel Arbeit. Wir können es uns jedoch nicht leisten, sie zu verlieren.
Doch nach Jahrzehnten des Willens zur gemeinsamen Kooperation und Lösung vielfältiger Herausforderungen wackelt das Fundament der EU. Zunehmende Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten und der Austritt Großbritanniens als eines der Gründungsländer machen der EU ebenso zu schaffen wie die zunehmende Einflussnahme rechtspopulistischer Kräfte in Europa. Das ist bedauerlich, denn mit den richtigen Visionen ließe sich die EU zum Wohle der Bürger weiterentwickeln. Doch genau diese Visionen fehlen derzeit.
Der Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und internationale Krisen können nicht bloß verwaltet und mit kleinen Maßnahmen korrigiert werden. Unsere Abgeordneten brauchen mutige Ideen, die Veränderungen in größerem Ausmaß zur Folge hätten, um problematische Entwicklungen in eine andere Richtung zu lenken. Auf nationaler Ebene mag man die jüngsten Ideen von Juso-Chef Kevin Kühnert mitunter zurecht kritisieren und ablehnen. Doch Kühnert mag anderen Politikern insofern ein Vorbild sein, als dass er zumindest konstruktiv eine große Idee mit großen Konsequenzen zur Debatte stellt.
Auch auf europäischer Ebene brauchen wir große Ideen. Frankreichs Präsident Macron machte in den vergangenen Monaten mehrere größere Reformvorschläge, von denen die meisten am Widerstand Deutschlands scheiterten. Was man auf der großen politischen Bühne beobachten kann, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Auch das Volk scheint keine große Vision für die Zukunft zu haben. Stattdessen konzentriert man sich zunehmend auf die individuellen und persönlichen Bedürfnisse der Gegenwart und bestätigt seine eigenen Ansichten in den Filterblasen der sozialen Netzwerke. Wir erkennen zwar, dass der Kapitalismus die soziale Gerechtigkeit im Land verhindert, Lobbyisten zu großen Einfluss auf Politiker nehmen, ein europäisches Asylkonzept konzipiert werden und mehr für den Umweltschutz unternommen werden muss. Aber Politiker haben nicht den Mut, große Veränderungen anzupacken – nicht zuletzt, weil wir als Bevölkerung nicht den Mut und die Vision hätten, solch einen Politiker zu wählen. Stattdessen wendet man sich in seiner Unzufriedenheit den Radikalen und Rechtspopulisten zu. Nur die dümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber. Die anderen haben europäische Visionen. |von Stefan Seefeldt