Wie ist es zu erklären, dass eine Rechtsordnung verbindlich für alle
Menschen innerhalb ihres Geltungsbereichs gilt und sich die Menschen
daran halten müssen – kurz: warum gilt das Recht? Dies ist eine der
grundlegenden Fragen, die die Rechtsphilosophie zu beantworten versucht.
Auch Gustav Radbruch, der zu den einflussreichsten Rechtsphilosophen des
20. Jahrhunderts gehört, setzt sich mit dieser Frage auseinander und
entwickelt eine Theorie zur Geltung des Rechts. Ihr zufolge wird die
Geltung des positiven Rechts gegründet „[…] auf den Frieden, den es
zwischen streitenden Rechtsanschauungen stiftet […]“.[1]
Gemeint ist damit die Rechtssicherheit, die positives Recht leisten
soll. Neben der Rechtssicherheit bilden nach Radbruch auch die
Gerechtigkeit und die Zweckmäßigkeit die Idee des Rechts, durch die es
seine Geltung erhält. Vor dem zweiten Weltkrieg standen sich in
Radbruchs Theorie diese drei Aspekte der Rechtsidee gleichwertig
gegenüber, wobei Radbruch die Bedeutung der Rechtssicherheit besonders
hervorhob. Nach dem Nationalsozialismus, der das positive Recht und
damit auch die Rechtssicherheit benutzte, um die grausamen Verbrechen zu
legitimieren, modifizierte Radbruch seine Theorie und betonte die
Gerechtigkeit als Teil der Rechtsidee stärker. Jedoch blieb die
Rechtssicherheit der entscheidende Faktor in Radbruchs Theorie.
In dieser Arbeit soll auf Grundlage von Radbruchs Theorie die Frage diskutiert werden, ob Rechtssicherheit der entscheidendste Wert des Rechts ist. Dabei werde ich zunächst Radbruchs Theorie darlegen und zeigen, warum Radbruch der Rechtssicherheit eine hohe Bedeutung zumisst und welchen Stellenwert er der Gerechtigkeit nach dem Nationalsozialismus zuschreibt. Als Grundlage dafür dienen mir §10 „Die Geltung des Rechts“ aus Radbruchs „Rechtsphilosophie“ und der Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“. Anschließend werde ich seine Argumentation untersuchen, um schließlich zu einem eigenen Urteil über die Stellung der Rechtssicherheit zu gelangen.
Zum Essay: Ist Rechtssicherheit der entscheidendste Wert des Rechts?
[1] Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, Stuttgart 81973, S. 177.