Zwischen den Kulturen
Warum diskriminieren sich Hörgeschädigte und Gehörlose gegenseitig, obwohl sie beide einer Minderheit angehören? Ist es nicht viel plausibler, als Randgruppen zusammenzuhalten?
In meinem Gespräch mit Jan-Lukas Schütte zu diesem Thema bin ich über Umwege zu einer möglichen Erklärung gelangt. Im Verlauf unserer Sendung sprachen wir über das Phänomen, dass viele gehörlose Paare mit Kinderwunsch gerne ein behindertes Kind haben möchten. Es soll ebenfalls gehörlos sein.
Laut dem Philosophen Prof. Dr. Frank Dietrich ist es größtenteils von Gehörlosen bekannt, dass diese oftmals ein behindertes Kind haben wollen, welches ihre eigene Behinderung teilt und sie sich somit ähnlicher sind. Im Jahre 2002 machte ein lesbisches Paar auf sich aufmerksam, das einen Samenspender hatte, bei dem Gehörlosigkeit seit fünf Generationen weitervererbt wird. Hier entstand das Kind also nicht unter Zuhilfenahme der PID (Präimplantationsdiagnostik), aber die ethischen Fragen sind analog, da man Gehörlosigkeit mit Hilfe der PID ermitteln kann.
Die Mütter lehnten Cochlea-Implantate und andere akustische Hilfsmittel ab. Die Kinder sollten selbst später entscheiden, ob sie doch noch hören wollen, oder nicht. Allerdings entwickelt sich in den ersten Jahren entscheidend die Sprache, sodass bereits unausgleichbare Schäden entstanden sind, wenn die Kinder selbst wählen dürfen. Doch was sind die Gründe für den Wunsch behinderter Paare, auch ein behindertes Kind zu haben? Wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus?
Gehörlose leben weitestgehend „in der Szene“, da sie viele Aktivitäten in Schule, Beruf und Freizeit nicht mit Hörenden teilen können. Sie haben ihre eigene Sprache (Gebärdensprache) und sind daher isoliert. Eltern können zu Kindern eine nähere Bindung aufbauen, wenn die Kinder auch gehörlos sind. Wenn Kindern die Welt der Hörenden offensteht, dann entfremdet sie das von ihren Eltern in Bezug auf hörende Freunde, berufliche und Freizeitaktivitäten etc. Die Eltern haben also die Hoffnung, dass keine Ausgrenzung innerhalb der eigenen Familie stattfindet.
Weiterhin wird Gehörlosigkeit von Betroffenen nicht gemeinhin als etwas negatives Angesehen Vielmehr gewinnen sie ihrer Behinderung viele positive Seiten ab. Andere Sinne werden geschärft, das Erlebnis der dauerhaften und totalen Stille scheint etwas Angenehmes zu sein. Auch entwickeln Gehörlose ihre eigene Form von Kultur.
Auch liegen die Nachteile, die Gehörlose erleiden müssen, nicht in ihrer Behinderung begründet, sondern in der Diskriminierung seitens der anderen Mitglieder der Gesellschaft, in der sie leben. In diesem Fall haben die Paare nicht die Probleme der sozialen Institutionen zu verantworten.
Hörgeschädigte hingegen können – zumindest bis zu einem gewissen Grad – an der Kultur der Hörenden teilnehmen. Mit Hilfe von Hörgeräten sind sie oftmals sogar in der Lage, fast perfekt zu hören. Sie beherrschen die Gebärdensprache nicht unbedingt, weil sie diese nicht benötigen. Dies entfremdet sie von den Gehörlosen, die sie nicht als Teil ihrer Kultur betrachten. Die Folge sind teilweise Ausgrenzung und Diskriminierung. |von Stefan Seefeldt
Zur Audio-Folge “Hörgeschädigte vs. Gehörlose”
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Frank Dietrich: Wunschkind mit Behinderung – Rechtsethische Überlegungen zur gezielten Vererbung genetischer Defekte, ARSP Band 99 Heft 3, Stuttgart 2013.