Vieraugengespräch Zum Thema Nicht jeder Gewalttäter ist krank

Nicht jeder Gewalttäter ist krank

Gewalt Juni 2017

Der Artikel von Can (hier klicken) beruht auf einem falschen Verständnis meiner in Folge 29 geäußerten Aussage:

„Man sollte vorsichtig damit sein, alle möglichen Täter immer damit zu entschuldigen, dass sie vielleicht psychisch nicht ganz in Ordnung sind.“

Wird ein Gewalttäter vor Gericht gestellt, wirkt es sich strafmildernd aus, wenn belegt wird, dass er aufgrund von psychischen Problemen nicht vollständig zurechnungsfähig ist. Dies ist gerecht und eine Folge der zunehmenden Kenntnisse über psychische Krankheiten, die Mediziner in den letzten Jahrzehnten erlangt haben. Folglich steigt auch die Zahl der nachweisbaren psychischen Krankheiten und somit die Zahl der nicht zurechnungsfähigen Gewalttäter vor Gericht. Doch heutzutage neigt man dazu, jeden für seine bösen Handlungen zu entschuldigen. Teilweise sucht man krampfhaft nach einer Entschuldigung für eine Gewalttat.

Für unser Handeln ist unser Gehirn zuständig. Dort werden Reize verarbeitet und Signale an unser Nervensystem, die Muskeln etc. gesendet. Unser Gehirn ist für die Beurteilung einer Situation verantwortlich. Die vermeintliche Entscheidung für oder gegen eine Straftat beruht auf Reaktionen im Gehirn. Die These dahinter: wir besitzen keine Willensfreiheit, sondern sind von der Konstitution unseres Gehirns abhängig. Blicken wir auf eine Entscheidung und die daraus resultierende Handlung zurück, so hätten wir uns nicht anderes entscheiden können – andernfalls hätten wir es vielleicht getan. Kurz gesagt: Philosophen, die diese These unterstützen, sprechen dem Menschen seine Willens- und Handlungsfreiheit ab.

Gewalt Juni 2017Diese These kann kritisiert werden. Es ist denkbar, dass im Zuge wissenschaftlichen Fortschritts Mechanismen im Gehirn entdeckt werden, die auf Willensfreiheit schließen lassen. Das Gehirn ist in der Wissenschaft zurzeit das noch am geringsten verstandene Organ des Menschen. Doch selbst wenn man die These der fehlenden Willensfreiheit als korrekt akzeptiert, stellt sich die Frage, was das in Bezug auf Gewalttäter – ja sogar in Bezug auf sämtliche Straftäter – bedeutet. Ist jeder Mensch entschuldigt, wenn er ein Verbrechen begeht? Und wenn ja: ist es dann moralisch geboten, ihn für etwas, dass er nicht ändern kann, zu bestrafen? Diese Frage hat ihre Berechtigung, aber nichts mit meiner oben getroffenen Aussage zu tun. Sie stellt sich vielmehr grundsätzlich, sodass eine Unterscheidung zwischen psychisch gesunden und kranken Menschen irrelevant ist. Doch genau diese Unterscheidung ist gängige Praxis vor Gericht und ich kritisiere die Beurteilungen, die immer häufiger getroffen werden.

Die Grenze zwischen dem, was wir als „gesunde“ Gehirnströme definieren und dem, was wir als „psychische Krankheit“ betrachten, ist letztlich fließend.

„Da das Verständnis psychischer Störungen mit einer hohen Bandbreite an ursächlichen oder assoziativen Erklärungsansätzen einhergeht, sind die Versuche einer Ordnung dieser Störungen immer auch Abbild der vorherrschenden Vorstellungen gewesen. Bis heute sind daher die gängigen Klassifikationssysteme Ausdruck geistiger Strömungen der jeweiligen Zeit, von denen die Forschung maßgeblich geprägt wird. Die Klassifikation psychischer Störungen war lange Zeit länderspezifisch sehr unterschiedlich und hing auch von psychologischen oder medizinischen Schulen ab. Bis heute werden einzelne Aspekte der Klassifikationsansätze kontrovers diskutiert. Die vorhandenen Systeme werden immer als vorläufiger gemeinsamer Nenner verstanden und stellen kaum endgültige Abgrenzungen im Sinne gültiger medizinischer Krankheiten dar.“[1]

Ob eine bestimmte Disposition als psychische Störung zu werten ist oder nicht, hängt also auch vom Zeitgeist der Gesellschaft ab, ohne dass gesicherte wissenschaftlich eindeutige Fakten geschaffen werden können. Besonders in den USA, in denen die Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) das verwendete Klassifikationssystem für psychische Krankheiten ist, besteht zudem eine Einflussnahme der Pharmaindustrie, sodass hier eher wirtschaftliche Interessen die Ernennung einer neuronalen Disposition zu einer psychischen Störung führen und weniger wissenschaftliche Forschung.

Die zunehmende Entschuldigung von Gewalttätern vor Gericht als psychisch nicht zurechnungsfähig, wird deren tatsächlicher psychischer Verfasstheit nicht unbedingt gerecht. Wir sollten anerkennen, dass es böse Menschen gibt – nicht, weil sie psychisch krank sind, sondern weil sie zum Beispiel aus kulturellen oder sozialen Verhältnissen kommen, die gewalttätiges Verhalten begründen. Jede einzelne Handlung auf Gehirnströme zurückzuführen, mag ein wissenschaftlich korrekter Ansatz sein. Er ist aber für sich genommen kein Argument für Strafmilderung vor Gericht. Die Grundsatzdebatte von Can lässt sich gerne im Anschluss an diese Feststellung führen, eignet sich aber nicht, um mit ihr meine oben genannte Aussage zu kritisieren. |von Stefan Seefeldt

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Psychische_St%C3%B6rung#Klassifikation

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