In der letzten Folge des Vieraugengesprächs (#29 Unser Umgang mit Gewalt) sprach ich mit Stefan über den Fall eines alkoholisierten Gewalttäters in Dortmund. Dabei ist folgender Satz geäußert worden, der eine heiße und wichtige Diskussion auslösen könnte:
„Man sollte vorsichtig damit sein, alle möglichen Täter immer damit zu entschuldigen, dass sie vielleicht psychisch nicht ganz in Ordnung sind.“
Diese Aussage ist nicht zuletzt deswegen brisant, weil sie die Perspektive einer Bevölkerungsmehrheit darstellt, während die Perspektive der Wissenschaft dieser Bevölkerungsmehrheit gewissermaßen widerspricht. Der Widerspruch betrifft jedoch vornehmlich den Schuldaspekt dieser Aussage, während die gebotene Vorsicht in Teilen dennoch sinnvoll sein kann. Mit anderen Worten: Selbst wenn jeder Straftäter – aus welchen Gründen auch immer – entschuldigt werden kann, bedeutet dies nicht, dass eine Vorsicht im Umgang mit diesen Menschen nicht geboten ist. Damit entstehen also gleich zwei Teildiskussionen, die jede für sich von besonderer Bedeutung für unsere ethischen und rechtlichen Entscheidungen sind: (1) Sind Straftäter manchmal, häufig oder immer unschuldig? (2) Wie sollte man mit Straftätern umgehen, wenn sie zwar unschuldig sind, jedoch ursächlich respektive in kausal relevanter Dimension mit der jeweiligen Tat in Verbindung stehen?
Sind Straftäter schuldig?
Um die als Frage formulierte Überschrift dieses Absatzes sinnvoll beantworten zu können, mögen einige Leser einwenden wollen, dass genaue Kenntnisse der jeweiligen Straftat und des Straftäters vorliegen müssen. Dies ist jedoch zumindest nicht dann erforderlich, wenn ich über die grundsätzliche Schuldfähigkeit von Menschen im Allgemeinen diskutiere. Ich schränke die Frage weiter ein, indem ich den Schuldbegriff (zunächst) auf den moralischen Aspekt beschränke. Es mag Formen von kausaler Schuld geben, die an anderer Stelle möglicherweise wieder relevant werden.
In der (philosophischen) Ethik hat sich ein Prinzip etabliert, das wie folgt lautet:
„Sollen impliziert Können.”
Dieses Prinzip bedeutet zunächst nichts anderes, als dass ein moralisches Sollen nur dann gegeben ist, wenn der potenzielle Täter in der Lage dazu ist, dieses Sollen in die Tat umzusetzen. Der Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen:
Person A befindet sich in einem See und droht zu ertrinken. Person B befindet sich in der Nähe dieses Sees und erkennt die bedrohliche Lage. Person B ist genau dann moralisch dazu verpflichtet, Person A zu retten, wenn sie in der Lage dazu ist, dies zu tun. Wenn man annimmt, dass Person B ein ausgebildeter Rettungsschwimmer ist und er sein eigenes Leben durch die Rettung von Person A nicht maßgeblich gefährdet, dann wird man für gewöhnlich das moralische Gebot aufstellen können, dass Person B die zu ertrinken drohende Person A retten soll. In dem Fall impliziert Sollen also Können. Nur weil Person B die andere Person retten kann, soll sie dies auch tun.
Wenn man nun annimmt, dass Person B kein ausgebildeter Rettungsschwimmer ist, sondern ein querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, lässt sich sagen, dass Person B nicht in der Lage dazu ist, Person A zu retten. Person B kann also Person A nicht retten, sodass dem ethischen Prinzip Sollen impliziert Können entsprechend kein moralisches Sollen entsteht. [Dies bedeutet natürlich nicht, dass Person B nicht etwa Ersatzleistungen erbringen kann (z. B. den Notdienst informieren)].
Straftäter sind per se moralisch unschuldig
Das angeführte Beispiel beschränkt sich auf die physische Komponente bei der Frage nach dem moralischen Sollen. Wenn der Rollstuhlfahrer den ertrinkenden Schwimmer nicht rettet, dann wird man dennoch behaupten, dass er unschuldig am Tod des Schwimmers ist. Denn der Rollstuhlfahrer war physisch unfähig dazu, den Schwimmer zu retten. Schwieriger einzusehen sind Fälle, in denen Menschen andere Menschen nicht retten, weil sie dazu psychisch unfähig sind. Eine plausible psychische Unfähigkeit könnte beispielsweise dann gegeben sein, wenn die am Rande des Sees stehende Person B geistig behindert ist, und die bedrohliche Lage von Person A kognitiv nicht adäquat erfassen kann. Auch in diesem Fall ist Person B moralisch unschuldig. Das Beispiel ließe sich weiter modifizieren, sodass an die Stelle der geistigen Behinderung etwa Emotionen wie Angst (vor Wasser) treten können.
Wenn ein Mensch unschuldig ist, dann ist es unplausibel, ihn wegen seiner Schuld zu bestrafen. Die auf Schuld basierende Bestrafung eines Menschen für eine Straftat wäre nur dann sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch sich gegen die Tat hätte entscheiden können:
Weil Du, Täter, Dich hättest gegen die Tat entscheiden können, werden wir nun Deine Schuld vergelten und Dich bestrafen.
Dies ist zumindest die dem deutschen Strafsystem zugrundeliegende Argumentation für Strafen. Diese Argumentation fußt auf der Annahme eines freien Willens. Dieser Annahme gemäß ist jeder kognitiv gesunde Mensch in der Lage dazu, seinen Willen frei auszubilden. Das heißt, dass jeder gesunde Mensch in der Lage dazu sein soll, sich für oder gegen eine Tat zu entscheiden. Daraus resultiert das Sollen, sich gegen die moralisch verwerfliche Tat zu entscheiden (Sollen impliziert Können).
Die Wissenschaften, insbesondere die Neurowissenschaft, haben in der Vergangenheit jedoch umfangreiche Erkenntnisse hinsichtlich der Funktionsweise des Gehirns gewinnen können. Diese Erkenntnisse verdanken die Wissenschaften nicht zuletzt modernen bildgebenden Verfahren (z. B. PET: Positronen-Emissionstomografie). Zwar haben die meisten Menschen den intuitiven Glauben daran, einen freien Willen zu besitzen, jedoch gibt es in der Forschung keine Hinweise auf die Existenz eines solchen. Es lässt sich kein Ort oder Moment im Gehirn finden, an (oder in) dem ein freier Wille wirken könnte. Es gibt keine „kausale Lücke“ in den Gehirnprozessen, die Platz für indeterminierte Prozesse ließe. Für den Neurowissenschaftler Gerhard Roth müsste ein Beweis für die Willensfreiheit beinhalten, „dass ein Mensch unter identischen physikalisch-physiologischen Bedingungen […] einmal A und einmal B täte, wobei das reine moralische Urteil und sonst nichts den Ausschlag gebe.“ [1] Eine solche Annahme ließe sich wissenschaftlich nicht begründen und wäre zudem nicht mit unserer Logik bzw. mit unserem Denken vereinbar.
Eine ausführliche Diskussion der Willensfreiheitsdebatte kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung die Inexistenz von Willensfreiheit nahelegen. Diese Erkenntnisse haben zur Folge, dass Straftäter per se psychisch unfähig dazu waren, sich gegen die Straftat zu entscheiden. Aufgrund dieser Unfähigkeit sind Straftäter moralisch unschuldig und schuldausgleichende Strafen werden obsolet.
Was bedeutet das nun für Straftäter?
In der Einleitung habe ich angeführt, dass die eingangs zitierte Aussage zwei Teildiskussionen eröffnet. Zum einen die Frage nach der Schuld von Straftätern, zum anderen die Frage nach der Vorsicht. Ich habe dargelegt, warum die Vorstellung einer moralischen Schuld insbesondere aufgrund der Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung abgelehnt werden kann oder muss. Daraus folgt jedoch nicht, dass keine Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung oder zur Resozialisierung des Täters getroffen werden können. Im Gegenteil, präventive Maßnahmen sind unabdingbar. Strafe darf jedoch in erster Linie nicht bezogen auf die Vergangenheit sein, indem eine erworbene Schuld ausgeglichen wird. Stattdessen muss sie auf die Zukunft gerichtet sein, indem sie die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten mindert. Strafen, die die Schuld von Straftätern vergelten sollen, führen in der Regel nicht dazu, dass Straftäter zu „besseren Menschen“ werden: Eine lange Haftstrafe ohne Konzept führt eher dazu, dass der Täter sich von der Gesellschaft weiter entfernt. Wir benötigen neue, ethische und wirksame Konzepte, für den Umgang mit Menschen, die sich nicht an moralische oder rechtliche Normen halten. Die dem deutschen Strafsystem zugrundliegende Vereinigungstheorie basiert primär auf dem Strafzweck der schuldausgleichenden Vergeltung. Dieser Strafzweck hat eine bedeutende Wurzel in religiösen Konzepten und sollte im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs massiv hinterfragt werden. |Von Can Keke
Stefans Gegendarstellung: Nicht jeder Gewalttäter ist krank
[1] Roth, Gerhard (2010): Lässt sich Willensfreiheit empirisch überprüfen, und welche Konsequenzen hätte das mögliche Resultat? In: Fuchs, Thomas / Schwarzkopf, Grit (Hrsg.): Verantwortlichkeit – nur eine Illusion? Schriften des Marsilius-Kollegs (Band 3), Heidelberg, S. 148.