Viele Menschen der westlichen Welt distanzieren sich zunehmend von dem Konzept der Religion, also einem bestimmten, durch Lehre und Satzungen festgelegten Glauben. [1] Häufig widersprechen moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse, wie die Evolutionstheorie, den Lehren von Religionen. Oder religiöse Lehren bringen eine Moral zum Ausdruck, welche den heutigen Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht werden kann. Wurde in der Vergangenheit vielfach propagiert, Religion sei für die Entwicklung der Moralität des Menschen unabdingbar, sieht die Wirklichkeit anders aus: Die Rolle der Frau oder der Tierschutz spielen aus der Sicht vieler heute lebender Menschen in Religionen eine zu unbedeutende oder falsche Rolle. Die Moral der Religion geht dabei entweder nicht weit genug oder in eine (zum Teil) falsche Richtung.
Ist Religion also nicht mehr nötig?
Viele Vorzüge der Religion finden sich auch in anderen, weltlichen Dingen. Eine Gemeinschaft können wir heute auch in Vereinen und anderen wiederkehrenden Freizeitaktivitäten entwickeln und leben. Eine besondere Aufgabe, wie die politische Arbeit, kann uns Halt in unserem Leben geben. Wir können eine Fußball-Weltmeisterschaft feiern statt zu Ostern nach Eiern zu suchen. Hinzu kommt, dass Probleme, die durch Religion entstehen, wie zum Beispiel das Konfliktpotential zwischen verschiedenen Religionen oder divergierender Strömungen, ohne die Existenz von Religionen ebenfalls nicht vorhanden wären. Demnach lässt sich festhalten, dass viele Merkmale der Religion sich auch in anderen Aspekten des menschlichen Lebens finden können, ohne dass wir Religion und die damit einhergehenden Probleme benötigen. Allerdings: Gibt es nicht vielleicht doch positive Merkmale, die zwar in der religiösen Praxis zu finden sind, welche jedoch in keiner weltlichen Aktivität respektive Leidenschaft auftauchen, und somit Alleinstellungsmerkmale von Religionen darstellen?
Positives Alleinstellungsmerkmal: Drei Kandidaten
Es gibt mindestens drei Kandidaten, die Alleinstellungsmerkmale von Religionen sein könnten.
(1) Glaube an ein übernatürliches Ding/Wesen
(1a) Glaube an ein höchstes übernatürliches Ding/Wesen
(2) Spirituelles Gefühl
Zur Unterscheidung von (1) und (1a):
Bei (1) handelt es sich um den Glauben an ein Wesen, das in seinem Handeln bzw. Wirken nicht oder nicht vollständig durch die Gesetze der Natur beschränkt ist. Dies könnte zum Beispiel ein Magier sein, der übernatürliche Zauberkräfte besitzt, oder ein beschränkter (nicht vollkommener) Gott, welcher beispielsweise lediglich Macht über das Wetter auf dem Planeten Erde hat (Wettergott). Aber auch ein vollkommener Gott kann hiermit gemeint sein.
Bei (1a) handelt es sich ausschließlich um den Glauben an einen vollkommenen Gott, der über unbeschränkte übernatürliche Macht über alles Seiende bzw. das gesamte Universum verfügt.
Während (1) das Ausmaß der Vollkommenheit/Beschränktheit des übernatürlichen Ding/Wesens offen lässt, ist bei (1a) auf jeden Fall eine Vollkommenheit/Unbeschränkheit gegeben. Das heißt, dass (1) eine weite Definition darstellt, unter die vollkommene und unvollkommene übernatürliche Wesen/Dinge fallen. Satz (1a) hingegen ist eine enge Definiton, unter die nur vollkommene Wesen fallen.
Also: (1) bezeichnet den Glauben an einen vollkommenen oder unvollkommenen Gott.
(1a) bezeichnet den Glauben an einen vollkommenen Gott.
Zu (1) und (1a): Der Glaube an eine übernatürliche Instanz (1) kann zu einem Gefühl der Sicherheit führen. Die übernatürliche Instanz findet sich in Religionen nicht selten als eine vollkommene, alles Sein bestimmende Macht (1a), in Form von Gott. Dieser Gott handelt nicht in den Grenzen, wie sie uns als Menschen, oder überhaupt einem natürlichen Ding oder Wesen im Universum gegeben sind. Damit ist er theoretisch in der Lage, uns allen zu helfen, indem er uns z. B. zu einem Leben nach dem Tod verhilft, in welchem wir auf all die Menschen treffen, die wir vor dem Tod lieben gelernt haben. Der Glaube an eine übernatürliche Instanz kann uns also helfen, keine Furcht vor dem Tod zu haben. Auch müssen wir nicht zu Lebzeiten beständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sein, denn Gott ist dieser Sinn, oder schafft diesen zumindest. Es gibt keine Midlife-Crisis, weil die Lebenszeit nur noch einen Teil unserer Existenz darstellt, und wir nicht versuchen müssen, zu jedem Preis das Beste aus unserem Leben herauszuholen.
Den Glauben an eine übernatürliche Instanz finden wir möglicherweise auch in weltlichen Dingen. Zum Beispiel kann das Dogma der politischen Arbeit als das ultimative Richtige angesehen werden: Nicht selten scheinen Vertreter des Marxismus oder Kapitalismus genau diesen Glauben zu vertreten. Dies gibt Sinn und Sicherheit in dem was man tut und lebt. Unklar ist, ob diese übernatürliche Instanz auch noch mehr als das sein kann, nämlich eine alles Sein bestimmende Macht, und ob dies äquivalent zu dem Glauben an einen vollkommenen Gott einer Religion sein kann. Wenn überhaupt, dann nur in den seltensten Fällen. Der Glaube an eine vollkommene Macht scheint eher der Religion vorbehalten zu sein. Oder anders gesagt: Sobald der Glaube an eine solche Macht ins Zentrum rückt, handelt es sich dabei wohl schon um eine Religion.
Zu (2): Etwas schwieriger zu fassen ist das spirituelle Gefühl, das viele Gläubige erleben, wenn Sie eine Kirche betreten, oder den Glauben an eine vollkommene Macht in Gemeinschaft ausleben und feiern. Zwar kann ich auch Spaß daran haben, Tennis zu spielen, dennoch bleibt das spirituelle Gefühl im Normalfall aus. Es ist ein Gefühl, das einen verzaubert, vollkommen in seinen Bann zieht. Aber es ist eben ein Gefühl, und damit eine höchst subjektive Komponente. Ob jemand bei dem, was er tut, spirituelle Gefühle erlebt, ist keine Frage der äußeren Logik. Theoretisch ist es denkbar, dass Menschen auch bei der politischen Arbeit oder beim Spielen von Tennis, spirituelle oder vergleichbare Gefühle erleben.
Fazit: Gott als Alleinstellungsmerkmal
Zumindest der Glaube an ein höchstes übernatürliches Wesen scheint ein Alleinstellungsmerkmal von Religionen zu sein. Denn sobald ein solcher Glaube gegeben ist, scheint es sinnvoll zu sein, zu behaupten, dass es sich dabei um Religion handelt. Dieser Glaube an eine alles Sein bestimmende göttliche Macht kann für diverse Sicherheiten im Leben der Menschen führen und Sinn schaffen. Krisen lassen sich auf diese Weise möglicherweise leichter bewältigen, weil mit Gott als Rückgrat alles zu schaffen ist. Für viele Menschen scheint dies wichtig zu sein, sie brauchen Religion. Vielleicht bräuchten auch viele nichtreligiöse Menschen einen solchen Glauben. Den Glauben an Gott kann man auch abseits von Weltreligionen finden, in einem ganz individuellen und persönlichen Glauben, welcher auch den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht werden kann. Jeder muss selbst entscheiden, ob er das Bedürfnis nach einem Glauben an Gott hat, und ob er sich dazu in der Lage sieht, an einen solchen Gott zu glauben. Eine Alternative können buddhistische Meditationstechniken sein, mit denen man (ohne Gott) das Leben im Hier und Jetzt stärken kann. |von Can Keke
Zur aktuellen Folge des Vieraugengesprächs:
#13 Braucht der Mensch noch Religion?
—–
[1] Duden-Online: http://www.duden.de/rechtschreibung/Religion (abgerufen am 10.01.2016)